ADHS? Übergewicht? Depressiv? Ursache: Schilddrüse oder Pubertät?
Reizbarkeit und Müdigkeit, fettige Haare und unreine Haut, Gewichtsveränderungen, Konzentrationsmangel und depressive Stimmung: Viele Symptome, die mit einer Störung der Schilddrüsenfunktion einhergehen, könnten bei Jugendlichen nur Ausdruck der Pubertät sein – oder eben nicht. Es besteht Verwechslungsgefahr! Während die Betroffenen darunter stark leiden können, sind die Eltern besorgt und suchen nach Ursachen.
„In diesem Alter kann es leicht passieren, dass eine Fehlfunktion der Schilddrüse falsch interpretiert und auf die Pubertät geschoben wird“, sagt Dr. med. Gesche Wieser vom Berufsverband Deutscher Nuklearmediziner e.V. (BDN).
Die Schilddrüsenexpertin erläuterte in einer Presse-Info, bei welchen Anzeichen Eltern besonders wachsam sein sollten – siehe unten. Doch auch Kinderärzte sprechen seit Jahren davon.
Eine Schüler:in von der erKant-Redaktion und Susanne von Sii-Kids, stellten ihr dazu noch Fragen; eigentlich für den Schülerzeitungs-Artikel, aber wir teilen den Beitrag auch hier. Denn: er kann Familien und insbesondere die betroffenen Jugendlichen vor viel Leid bewahren. Auf dieser Website enthält der Beitrag noch mehr Informationen – deshalb sollten auch Eltern, bei deren Kinder ADHS und/oderRheuma-Verdacht besteht, hier weiterlesen.
Hinweis vom Vereinsvorstand: „Auffallend viele hochbegabte Mädchen haben Übergewicht (die Quelle suchen wir noch einmal heraus) und auffallend viele hochbegabte Kinder zeigen ein ADHS-ähnliches Verhalten. Vielleicht ist das alles eine Frage der Hormone, entsprechend der Schilddrüsen-Funktionsfähigkeit?“
Fakt ist, und das möchten wir hier zufügen: eine Psychologin in Hamburg hatte unserem Vorstand in einem persönlichen Gespräch mal gesagt: „ADHS verstärkt sich oder entsteht oft erst in der Pubertät – das hängt mit dem Hormonhaushalt zusammen“. Leiden Eure Eure Ki/Ju also unter Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen und vermuten Ärzte ADHS, lest hier weiter, denn das kann auch einen anderen Grund haben.
Wenn es eine Häufung von Schilddrüsen-Erkrankungen in der Familie gibt, ist Achtsamkeit geboten.
Es gibt verschiedene Faktoren, die eine Störung der Schilddrüsenfunktion in der Adoleszenz (Entwicklung des Menschen von der späten Kindheit über die Pubertät bis hin zum vollen Erwachsensein) auslösen können. „Vor allem die Geschlechtshormone spielen in der Pubertät dabei eine große Rolle“, erläutert Wieser. Aber auch hormonelle Verhütung, Dauerstress, virale Infektionen sowie Jodüberschuss oder Jodmangel, verursacht etwa durch vegane oder vegetarische Ernährungsweisen, stellen Störfaktoren dar.
Darüber hinaus gibt es eine genetische Veranlagung etwa für eine chronische schmerzlose Entzündung der Schilddrüse, die sogenannte Hashimoto-Thyreoiditis. „Hashimoto manifestiert sich häufig in der Pubertät“, sagt Wieser. Insgesamt entwickeln etwa zwei Prozent der Schulkinder die Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem irrtümlich das eigene Schilddrüsengewebe mit Antikörpern attackiert. Mädchen sind viermal häufiger betroffen.
Die Erkrankung wirkt sich auch negativ auf die schulischen Leistungen aus.
„Jugendliche mit Hashimoto entwickeln oft Gedächtnis- und Konzentrations-Störungen“, weiß Wieser. Bei guter medikamentöser Einstellung bilden sich diese Symptome jedoch wieder vollständig zurück.
Laut der Uni Lübeck / Locotact kommt etwa 1 von 3600 Neugeborenen mit einer angeborenen Schilddrüsen-Unterfunktion auf die Welt.
Schülerin leidet seit ihrer Kindheit an hier beschriebenen Symptomen.
Das Mädchen, das nicht möchte, dass ihr Name genannt wird, erzählte einem Redaktionsmitglied ihre Geschichte. Dies führte dazu, dass wir uns informierten und die Pressemitteilung von Dr Wieser fanden. In Kurzform: Im Grundschulalter bestand zunächst jahrelang Rheuma-Verdacht, später, in der Pubertät wurde vermeintlich ADHS festgestellt. Sie kämpfte stark mit Geschlechts-Identitätsproblemen, Konzentrationsmangel, Aggressivität, Depressionen, Menstruations- Ausbleiben und Übergewicht – all das führte natürlich zu Minderwertigkeitsgefühlen, zu schlechten Noten in der Schule und viel Streit in der Familie.
Erst hatte sie angeblich Rheuma (HLA-B27 im Blutbild erkannt); ein Kinder-Rheumatologe wollte sie bereits mit Rheuma-Medikamenten der 2. Stufe (!) behandeln. Die Mutter stimmte dem (zum Glück) nicht zu. Kein anderer Arzt sah Rheuma (jährlich geprüft) und selbst der o.g. Kinder-Rheumatologe stellte später fest: das „Rheuma“ ist wieder weg.
Seit ihrem 5 Lebensjahr steht in ihrem Kinder-Untersuchungsheft, ihr Gewicht läge etwas über dem Durchschnitt, was überraschend ist, da sie körperlich sehr aktiv war (Kletter-Fan, ständig in Bewegung), ADHS-ähnliches Temperament zeigte, und ihre Mutter viel wert auf gesunde Ernährung legte.
Ebenfalls zeigte im Laufe der Jahre jedes Blutbild leicht erhöhte Entzündungswerte an – doch jedes Mal hieß es: sie würde wohl aktuell mit einer Infektion kämpfen. Kein Arzt sah die Notwendigkeit, dem nachzugehen. Nur Rheuma stand halt als mögliche Ursache all die Jahre im Verdacht; tatsächlich konnte das Mädchen einige Jahre kaum Fahrradfahren, so sehr schmerzten die Knie. PS: Alle ärztlichen Unterlagen liegen der Redaktion vor.
Zuletzt konnte 2019 der Rheumaverdacht ausgeräumt werden, denn: wegen einer Nieren- und Blasenentzündung bekam das Mädchen Penicillin. Darauf reagierte sie extrem allergisch, aber dennoch war die Einnahme gut, denn: seitdem sind ihre Gelenkschmerzen weg! Mit diesen Gelenkschmerzen kämpfte sie seit ihrem 7 Lebensjahr; seitdem bestand der Rheumaverdacht bei Ärzten.
Die Mutter nimmt heute an, dass die Gelenkentzündungen durch eine Scharlach-Infektion entstanden sind. Der Kinderarzt hatte kein Antibiotika verschrieben und Gelenkentzündungen sind gefährliche Spätfolgen von Scharlach.
Viele Jahre später, als Jugendliche, bekam sie eine Weile ADHS-Medikamente (gegen den Wunsch der Eltern). Für alles andere (Minderwertigkeitsgefühle, Depressionen, Aggressivität) wurde von den Psychologen aus einer Klinik die Schuld bei den Eltern gesucht. Mobbing-Erfahrungen in der Schule wurden dagegen nicht berücksichtigt. Körperliche Erkrankungen wurden nicht in Erwägung gezogen und entsprechend nicht näher untersucht. Das, obwohl die Schilddrüsenwerte bei einer Blutuntersuchung in der Klinik negativ aufgefallen waren!
Erst im Dezember 2022 wurde festgestellt, dass das Mädchen eine Schilddrüsen-Unterfunktion hat.
Jetzt erst? Ja. Hausärzte hatten bisher lediglich den TSH-Wert bei Blutabnahmen untersuchen lassen, aber nicht fT3 und fT4. Bis auf einmal – in o.g. Klinik. Da war der Wert grenzwertig gewesen, aber noch normal – für Erwachsene. Sie war aber damals 15 gewesen und für Kinder und Jugendliche gelten andere Werte normal, als für Erwachsene oder gar Senioren.
Seit vier Wochen (kurz vor Weihnachten) nimmt sie das Medikament „L-Thyroxin“ und ist wie ausgewechselt! Das Gewicht sinkt, die Stimmung ist besser, ebenso die Konzentration, Wutanfälle hat sie nicht mehr – in der Familie herrscht wieder Frieden. Hätten die schlimmen Jahre also durch Schilddrüsen-Medikamente ausbleiben können?
Weitere Informationen vom Berufsverband Deutscher Nuklearmediziner e.V.:
Überfunktion kann in Unterfunktion übergehen.
Hashimoto kann sich zunächst als Schilddrüsenüberfunktion äußern, um dann in eine Unterfunktion überzugehen. „Eine Überfunktion zeigt sich unter anderem durch Herzrasen, Haarausfall, Ängste, Nervosität, Konzentrationsstörungen, Gewichtsverlust und starke Regelblutungen“, zählt die BDN-Expertin auf.
Eine Unterfunktion dagegen macht sich durch Gewichtszunahme, Müdigkeit, depressive Stimmungslage, häufiges Frieren, ausbleibende Regel, fettige Haare und unreine Haut bemerkbar. „Diese Zustände können natürlich auch einfach nur Ausdruck der Pubertät sein, was ja auch ganz überwiegend der Fall ist“, so Wieser. „Das macht die Diagnose einer wirklichen Schilddrüsenerkrankung bei Jugendlichen umso schwieriger – auch weil man mit Blutuntersuchungen in diesem Alter eher zurückhalten ist.“
Auf familiäre Häufung achten, Kinderärzt*innen ansprechen.
Dennoch gibt es Konstellationen, in denen erhöhte Wachsamkeit geboten ist. „Sind Schilddrüsenerkrankungen in der Familie bekannt, sollten Eltern besonders aufmerksam gegenüber möglichen Symptomen sein“, sagt die Freiburger Nuklearmedizinerin.
„Diese Anzeichen sind vor allem: starke Gewichtszunahme, obwohl ein Kind gesunde Kost in überschaubaren Portionen zu sich nimmt, unregelmäßige Monatsblutungen und psychische Auffälligkeiten oder Wesensveränderungen“, so Wieser. Die Schilddrüsenspezialistin rät, im Zweifel Kinderarzt oder Kinderärztin bei den Vorsorgeterminen U 10 bis J 2 darauf anzusprechen und um einen Bluttest zu bitten.
Leicht erhöhter TSH-Wert allein ist kein Grund für eine Therapie.
Dabei wird unter anderem das Thyroidea-stimulierende Hormon, der TSH-Wert, untersucht. Er zeigt die Schilddrüsenfunktion an. „Ein gering erhöhter TSH-Wert, der auch durch Übergewicht oder Jodmangel bedingt sein kann, ist allein jedoch noch kein Grund, mit einer Hormontherapie zu beginnen“, betont die BDN-Expertin.
Da sei man heute zunächst zurückhaltend, auch um den Jugendlichen in dieser oft schwierigen Phase der Selbstwahrnehmung nicht unnötigerweise das Gefühl zu vermitteln, krank zu sein. „Erst wenn zusätzlich auch die Schilddrüsenhormone fT 3 und fT 4 vermindert sind oder ein TSH-Wert über 10 vorliegt, ist eine medikamentöse Behandlung mit L-Thyroxin-Tabletten angezeigt“, erklärt Wieser.
Fragen von erKant und Antworten von Frau Dr. Wiesner (E-Mail Interview):
Redaktion: „Wir haben im Internet gelesen, das rheumatische Systemerkrankungen einige Ähnlichkeiten mit Schilddrüsen-Fehlfunktionen haben. Bei dem oben genannte Mädchen bestand jahrelang der Verdacht, dass sie Rheuma hat … Sie hatte Gelenk- und Muskelschmerzen, sowie eine muskuläre Schwäche. Diese Merkmale nennt der Rheumatologe Wecker als Symptome einer Schilddrüsenunterfunktion. Was meinen Sie dazu?“
Dr Wiesner: „Prinzipiell ist die Gefahr an einer weiteren Autoimmunerkrankung zu erkranken erhöht, wenn man bereits unter einer Autoimmunerkrankung leidet. Wir sehen bei Hashimoto häufiger eine Vitiligo*, Zölliakie*, juvenile Diabetes-Erkrankungen u.a.“ (*Vitiligo = chronische Erkrankung der Haut; Zölliakie, chronische Erkrankung des Darms).
Redaktion: „Während unserer Redaktionsarbeit sind wir vielen Jugendlichen begegnet, die Geschlechtsidentitäts-Probleme haben. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Geschlechtsidentitäts-Problemen und Schilddrüsen-Unterfunktion? Und welche fT3 und fT4 Werte für Kinder und Jugendliche sind normal (uns liegt eine Tabelle vor, aber die ist schon älter).“
Dr Wiesner: „Die Schilddrüsenhormone haben natürlich auch Einfluss auf andere Hormone; dass sie Geschlechts-Identitätsprobleme auslösen, ist aber nicht bekannt. Da spielen die Geschlechtshormone Testosteron, Östrogen u.a. sicher eine größerer Rolle. Und ja, die Werte für Kinder und Jugendliche sind anders, pauschale Referenzwerte gibt es aber nicht. Diese müssen aber von jedem Labor speziell ausgegeben werden (das hat auch etwas mit den Testverfahren zu tun).“
Redaktion: „Was können Sie zu der Erzählung des oben genannten Mädchens sagen? Erst bestand bei ihr Rheuma-verdacht, später wurde vermeintlich ADHS diagnostiziert; Ende 2022 wurde nun aber eine Schilddrüsenunterfunktion festgestellt. Die Medikamente helfen ihr! Hätten die schlimmen Jahre in der Pubertät also durch Schilddrüsenmedikamente verhindert oder gemildert werden können?“
Dr Wiesner: „Es ist immer schwer ohne Kenntnis der Werte etwas dazu zu sagen, aber wenn der TSH-Wert normal war, liegt nur sehr selten eine schwere Störung der Schilddrüsenfunktion vor, aber manchmal eben schon. Dass Symptome einer Schilddrüsen-Funktionsstörung fehlgedeutet werden und eine Funktionsstörung längere Zeit nicht diagnostiziert wird, sehen wir häufig.“
Eine Therapie ist bei Unterfunktion geboten und hilft.
Um über eine Hormontherapie zu entscheiden, ist das Blutbild inklusive der Messung von Antikörpern aber nur ein erster Schritt. „Es sollte unbedingt eine Ultraschalluntersuchung der Schilddrüse bei der Spezialistin oder dem Spezialisten folgen, die auch das Organ selbst auf Veränderungen hin untersuchen“, so Wieser.
„Unter Umständen reichen zunächst Kontrollen in regelmäßigen Abständen, um zu sehen, ob sich die Schilddrüsenwerte wieder normalisieren.“ Liegt jedoch eindeutig eine Hashimoto-Thyreoiditis mit Unterfunktion vor, muss eine Therapie eingeleitet werden. Bei guter medikamentöser Einstellung bilden sich diese Symptome jedoch wieder vollständig zurück.
Die Symptome sind sehr vielfältig.
Folgende Anzeichen werden oft bei einer Schilddrüsen-Unterfunktion zugeschrieben:
- Konzentrationsschwierigkeiten und Gedächtnisstörungen
- fehlender Antrieb, depressive Verstimmungen,
- Menstruationsbeschwerden, verringerte Libido
- fehlende Merkfähigkeit,
- langsamer Puls, niedriger Blutdruck, Müdigkeit,
- Magen-Darm-Probleme: Verstopfung, Übelkeit
- niedrige Körpertemperatur, erhöhte Kälteempfindlichkeit, verstärktes Frieren,
- trockene blasse Haut,
- Gelenk- und Muskelschmerzen, -schwäche
- Haarausfall, brüchige Nägel,
- tiefe, heisere oder auch brüchige Stimme,
- Wassereinlagerungen im Gewebe
- unerklärbare, starke Gewichtszunahme
- verlangsamter Herzschlag (‚Bradykardie‘)
- Herzvergrößerung
- Kloß im Hals, Strangulationsgefühl
- heisere Stimme, häufiges Räuspern
- trockene Haut, Haarausfall
- nächtliches Wasserlassen
„Bei Frauen im gebärfähigen Alter kommt es bei einer unbehandelten Schilddrüsenunterfunktion oft zu Zyklusstörungen, dem Ausbleiben der Periode und Zwischenblutungen. Auch Unfruchtbarkeit ist eine mögliche Folge, da die Hormonbildung in der Eierstöcken erschwert ist.“ heißt es auf meinmed.at. Anmerkung: Frauenärzten scheint dies weitgehend unbekannt zu sein …
Presse-Kontakt zu Frau Dr. Wiesner:
Kerstin Ullrich
Pressestelle, Berufsverband Deutscher Nuklearmediziner e.V.
Postfach 30 11 20
70451 Stuttgart
Fon +49 711 8931-641
Fax +49 711 8931-176
ullrich@medizinkommunikation.org
weitere Quellen:
Dr Weigel und meinmed.at
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