Zappeln, Sabbeln und Sachen erfinden – Wenn Hochbegabte Kinder sich verspielen.
Essay: Wenn Hochbegabte Kinder sich verspielen.
Zappeln, Sabbeln und Sachen erfinden
Konzentrationsmangel. Bewegungsdrang. Unruhe. Gedankenlosigkeit. ADHS-Verdacht? Viele hochbegabte Kinder bewegen sich ständig und tun häufig etwas, was sie gerade nicht tun sollen. Sie träumen, sie beobachten, sie untersuchen und erfinden was. Immerzu.
Darum sind sie die Letzten in der Gruppe, die z.B. angezogen sind (in Kindergarten, Schule, beim Sport, etc). Darum vergessen sie ständig etwas. Lassen Mützen liegen. Kommen zu spät. Haben ihre Sachen nicht zusammengepackt. Beinahe JEDER wirft ihnen ihre „Langsamkeit“ und ihre „Vergesslichkeit“ als Charakterschwäche vor. Unfair oder?
Denn sie sind kreativ und erfinderisch! Langeweile kennen sie nicht! Ihr Geist ist ständig auf Reise. Wenn man sie lässt! Zuhause, im Kindergarten oder in Freiarbeitszeiten in der Schule sieht der Beobachter ein Kind, das von einer Idee zu nächsten schwebt.
Erfindungen und null Langweile
Wie oft habe ich z.B. die Bauwerke meiner Tochter begutachtet. Sie verwandelt ihr Kinderzimmer beim Erfinden all ihr Wunderwerke zwar in nullkommanichts in ein Chaos. Aber: es ist toll. Was sie allein alles aus Papier und Kartons gebaut hat! Ganze Burgen und Schlösser. Mit Türmen. Tesafilm? Ist bei uns fast immer leer! Denn: Damit klebt mein Kind wirklich alles. Meterdick, wenn es der Erfindung aus Papier ansonsten an Standfestigkeit mangelt. Eine Schöpfkelle aus Papier? Ein Schloss aus Watte? Was glauben Sie, wie das hält, wenn meterweise Tesafilm drumherum geklebt ist. Bestens. Nur der Verbrauchswert ist immens hoch … Bei sowas ist das Kind in der Regel total konzentriert. Lässt sich von nichts ablenken. Auch nicht von dem 7. Ruf seiner Mutter, dass es zum Essen kommen soll …
Und wieviele Zeichnungen die kleine Künstlerin angefertigt hat. Kistenweise. Und Geschichten erfunden hat. Und mit Fischertechnik, Lego (auch Robotik), Playmobil ganze Welten gebaut hat. Anleitungen braucht sie dafür nicht. Ich würde gerne mal einen Wettbewerb starten. Mit hochbegabten Kindern und Erwachsenen. Wer baut Ikea-Möbel schneller zusammen? Was denken Sie?
Auf jeden Fall braucht meine Erfinderin keinen Fernseher. Keinen Nintendo. Kein garnichts an diesen technischen Geräten, um sich beschäftigen zu können. Ich bin stolz auf sie! Und entsetzt über all die Kinder, die nichts mit sich anzufangen wissen. Die sich schnell langweilen, obwohl sie gerade Zeit haben, das zu tun, was sie möchten. Denen nichts einfällt, um sich zu beschäftigen.
Vergessen und Träumerei
Aber: oft wirkt dieser Erfindergeist störend. Wenn ein hochbegabter Schüler beispielsweise im Schulunterricht vom Lehrstoff gelangweilt ist; wenn der Lehrer es nicht schafft, ihn für das aktuelle Thema zu interessieren. Dann schweifen die Gedanken dieses Schülers ab. Er fängt an zu Träumen. Verliert sich in der eigenen Gedankenwelt. Oder rutscht nervös auf seinen vier Buchstaben herum. Läuft vielleicht sogar durch die Klasse. Nervt. Redet. Lenkt seinen Nachbarn ab. Oder zeichnet und malt – wie Leonarda da Vinci. Am schlimmsten ist für die anderen, wenn der Klassenkasper in ihm geweckt wird, um die Langeweile zu durchbrechen. Für das Kind an sich ist am schlimmsten, wenn es deshalb vom Lernstoff kaum noch etwas mitbekommt und zum Underachiever* wird UND als unfähig diskreditiert wird.
Vom ersten Tag an musste ich mir anhören: Ihre Tochter ist immer die letzte! Im Kindergarten wurde das noch verständnisvoll gesagt. Mein Kind wurde dort liebevoll erinnert und eben häufiger aufgefordert, etwas zu erledigen. Dinge wie Anziehen, Essen, oder so. In der 1. Klasse veränderte sich das. Die Lehrer sagten: Sie ist noch zu verspielt. Sie nervt. Das geht so nicht. Sie MUSS lernen, schnell und zuverlässig fertig zu werden. Das artete fast in mobbing durch die ganze Klasse aus! – inkl. Lehrern.
Gestern erzählte mir eine Bekannte, das ihr Mann gerade völlig erbost gewesen war. Erbost über Hort-Betreuerinnen, die sich beim ihm über seine ach so fürchterliche Tochter aufgeregt haben, weil sie sich ständig vertütelt und immer als letzte fertig ist. Er war wütend. Denn die Hortbetreuerinnern (pädagogische Fachkräfte?) redeten über dieses tolle, lebhafte Kind mit den blitzenden Augen, abwertend. Ja. Abwertend. Im lästerlichen Ton.
Gleichgesinnte – sie sind wie die Du!
Dieses Mädchen und meine Tochter haben sich in einem Kurs, den ich zur Zeit gebe, kennengelernt. Diese Nacht schläft meine Tochter bei ihr. Wissen Sie, was mich berührt hat? Als ich heute Abend noch mal anrief, um zu fragen, ob alles gut ist (ich bin so eine Mutter …), erzählte meine Tochter mir voller Freude, dass die beiden sich ewig im Badezimmer vertütelt haben. Heißt: sie haben sich zusammen verspielt und die Zeit vergessen. Wurden einfach nicht fertig, weil es ja soviel anderes zu tun gibt im Bad (ein Badezimmer beherbergt wirklich unfassbare Geheimnisse und viele Materialien zum Testen und Erforschen). Ihrer Stimme habe ich angehört, dass sie sich darüber freut, nun eine Freundin gefunden zu haben, die genauso ist wie sie. Die auch nie fertig wird, nicht stillsitzen kann und ständig etwas erfinden oder ausprobieren muss.
Eine andere neue Freundin meiner Tochter fühlt sich bei uns im Haus wohl – denn: ich muss beide Mädchen gleich oft erinnern (bis ich mit denen angezogen aus der Haustür komme …). Hier ist die Freundin nicht anders als die Anderen. Hier ist sie ganz normal. Hier braucht sie nicht weinen, weil sie etwas vergessen hat, woran aber alle anderen gedacht haben.
Gleichgesinnte zu kennen ist toll! Ja, in meinem Kurs mit hochbegabten Mädchen, gibt es noch andere davon. Also solche, die nicht stillsitzen können, die ständig aufstehen und herumlaufen. Die häufig reden und sich mitteilen. Und sich andererseits in ihren Gedanken verlieren und kaum mitbekommen, wenn ich sie anspreche. Nun, bei mir im Kurs ist das nicht so schlimm. Es laufen halt maximal 8 Kinder herum. Nicht 25. Auch wird in diesem Kurs erwartet, dass die „Schüler“ eigenständig an ihren Projekten arbeiten. Das ist kein Frontalunterricht! Sondern größtenteils Freiarbeit. Eigenverantwortliches Arbeiten (EVA), in dem sie selbst aktiv sein dürfen und nicht nur still zuhören brauchen. Ja, in den Kursen, die ich gebe, verstehe ich mich tatsächlich nicht als Lehrer, sondern nur als Lernbegleiter. Ich moderiere, aber doziere nicht. Ich stelle Material und Möglichkeiten zur Verfügung, aber lasse es die Kinder selbst tun. Das motiviert sie ungemein! So „lernen“ sie begeistert.
Problematisch sind die anderen Dinge – wie Zuhause. Der Nebenschauplatz fordert von mir – als Mutter wie auch als Kursleiterin – Geduld. „Es ist Zeit, bitte packt ein/speichert/räumt auf.“ – Erfinder von ihrer Arbeit abzuziehen, ist wirklich eine Herausforderung. „Du hast deine Mütze/deinen Schulranzen/deine Brotdose vergessen!“ Und das oft. Hier unter Gleichgesinnten fällt das garnicht so sehr auf. Ich bin hinterher nur heiser. Aber die Kinder selbst beobachten mit Genugtuung, dass ausnahmsweise nicht sie selbst der Letzte sind. Das nicht nur sie allein Dinge vergessen; sondern die anderen auch. Denn die sind genauso wie sie.
Ihre Erfindungen! Ihre Arbeitsergebnisse! Ihre Eigenmotivation! Ich finde diese Kinder toll …
Underachiever (engl.: Underachiever, von: to achieve, zu Deutsch: „etwas zustande bringen“, „ein Ziel erreichen“) sind z.B. Schüler, die mir ihren Leistungen unter ihren Fähigkeiten bleiben. D.h. sie schreiben schlechte Noten, obwohl sie sehr intelligent sind. Viele Menschen können nicht verstehen, dass hochbegabte Kinder nicht automatisch erfolgreich sind, sondern sogar Lernschwierigkeiten entwickeln können (durch falsche Lernmethoden, Druck, Ausgrenzung, etc).
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