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Schulabbruch? Warum Oberstufenschüler gingen

Anfang der Woche wurde in vielen Medien berichtet: Deutschland habe die vierthöchste Schulabbrecher-Quote in der EU. Ein Blick in die Originalstatistik “Eurostat” offenbart jedoch, dass es verschiedenste Quoten von vorzeitigen Schul- UND Ausbildungsabbrechern gibt. Die Quote für Deutschland schwankt je nach Abfrage von 9,1 % und Platz 10 sowie 29,8 % und Platz 1. Sich rein nach den Statistiken ein Bild zu machen, ist also wenig zielführend – dennoch wird hier darauf eingegangen.

Woran liegt es, dass Jugendliche zu Schul- und Ausbildungs-Abbrechern werden? Am Bildungssystem? Den Ausbildungsbetrieben? An individuellen Problemen, Gesundheit und Wohlbefinden?

Betroffene Schüler:innen aus der gymnasialen Oberstufe (ohne Migrationshintergrund) erzählten, warum sie trotz Begabung und Engagement die Schule kurz vor dem Abitur verlassen haben.

(Dieser Artikel erschien auch auf der Homepage der Autorin (in der Struktur / Reihenfolge aber anders).)

Private Probleme, ungerechtes Schulsystem, Hochbegabung.

Auf der Website „European Education Ares“ der EU heißt es: „Es gibt viele Gründe, weshalb junge Menschen ihre allgemeinen bzw. beruflichen Bildungsanstrengungen vorzeitig aufgeben: persönliche oder familiäre Probleme, Lernschwierigkeiten oder eine unsichere sozioökonomische Lage. Auch die Struktur des Bildungssystems, das Schulklima und das Verhältnis zwischen Lehrkräften und Schülern sind wichtige Faktoren.“

Die Schüler:innen Anna, Tim und Julia (Namen geändert, alle aus Süd-Schleswig-Holstein) erzählten, warum sie die Schule in der gymnasialen Oberstufe (Sek 2) abgebrochen haben. Zusammenfassung ihrer Geschichten:

Während der Corona-Zeit hat Schülerin Julia (Name geändert) nach der 11. Klasse die Schule abgebrochen, weil bei ihr wirklich alles schieflief: Die Eltern ließen sich scheiden, der Vater verschenkte den Hund und ließ direkt eine neue Freundin samt Kindern im ehemaligen Familienhaus einziehen. Die Mutter konnte sie nicht emotional auffangen – in der Summe wurde Julia schwermütig und depressiv. Zuerst saß sie nur noch im dunklen Jugendzimmer und aß nichts mehr. Dann kam das Zeugnis, das ihr klarmachte, dass sie auf der Gemeinschaftsschule mit Oberstufe keine Chance auf einen Abiturabschluss hatte – also brach sie die Schule ab. Immerhin hatte sie schon den MSA – also den mittleren Abschluss von Sek1.

Aber: Leider ist sie inzwischen ziemlich abgestürzt, hat auch eine angefangene Ausbildung abgebrochen (falscher Beruf, langweilige Aufgaben) und arbeitet jetzt in Clubs.

Vor kurzem hat auch Tim (Name ebenfalls geändert) die Schule verlassen. Mündlich war er immer top, aber wegen seiner LRS (Lese-Rechtschreib-Schwäche) hatte er immer schlechtere Noten, als er hätte haben können. Die Schule sagt, er könne mündlich nicht mehr als drei Notenpunkte besser haben, als schriftlich – deshalb nutzt ihm auch die beste mündliche Leistung nichts. Das letzte Schulhalbjahr war besonders hart für ihn, denn seine Mutter hat eine Schildrüsenerkrankung, weswegen sie mehrmals sehr krank war und beinahe gestorben wäre. Tim kümmerte sich um sie, war oft im Krankenhaus, konnte vor Sorgen nicht mehr schlafen.

Für die Lehrkräfte war das kein Grund, Rücksicht zu nehmen (sie meinten, er würde lügen und das nur als Ausrede für seine Faulheit nutzen) oder ihn besonders zu fördern. Kurz vor dem Abitur gab er auf!

Das, obwohl Tim, genauso wie Anna, Schulsprecher und generell sehr engagiert war!

Die dritte Schülerin (hier „Anna“ genannt) hat ebenfalls im letzten Monat die Schule abgebrochen. Auch kurz vorm Abitur; wie Tim hat sie aber wenigstens einen Fachhochschulabschluss. Als hochbegabte Schüler:in mit ADHS-Symptomatik war für sie Schule vom ersten Tag an eine Qual. Stillsitzen? Frontalunterricht? Ein Graus für sie! Individuelle Förderung hat sie nie erhalten; stattdessen hat sie Mobbing-Erfahrungen machen müssen; kam nicht mit dem Stresspegel und Chaos in den Schulen und im Klassenraum mit pubertierenden Jungs zurecht und erlebte leider auch sehr negative Situationen mit Lehrkräften: Anbrüllen, vor der ganzen Klasse niedergemacht und regelmäßig durch unpädagogisches Verhalten demotiviert werden, etc.

Bei der hochbegabten Anna zeigte sich, was laut dem Buch “Visible Learning” (2018, Tabelle von Seite 143) und den Studien von Klaus Zierer und John Hattie, welche auf 1.400 Meta-Analysen beruhen, die schädlichsten Faktoren, also die “Verhinderer” für gute Schulleistungen sind:

·       Angst (-37)
·       ADHS (-0,90)
·       Depressionen (-35)
·       Langeweile (-0,49)
·       körperliche Züchtigung im Elternhaus (-33)
·       Unbeliebtheit in der Klasse (-23) (dieser Punkt steht auf einer anderen Buchseite)
·       Fernsehen (-15)

„Fernsehen“ dürfte heutzutage durch „Digitale Endgeräte, Online-Spiele und -Medien“ ersetzt werden können und die Negativwirkung deutlich stärker ausfallen (Text aus unserem #Buch_NBNS).

Wie diese Beispiele zeigen, werden Schüler:innen zu Schulabbrechern, die den Umständen entsprechend nicht abliefern konnten – als gesunder Mensch, ganz ohne Behinderung, mit 0,00 Migrationshintergrund. Ja, sogar als besonders Begabte und Engagierte!


Nachhaltigkeitsziel 4 – hochwertige Bildung?

Bei Ziel 4 der Nachhaltigkeitsziele der UN geht es um inklusive, gleichberechtigte und chancengerechte, kurz: um hochwertige Bildung, die gewährleistet werden und Möglichkeiten des lebenslangen Lernens für alle fördern soll. Aber wie kann das gelingen, wenn der Lehrkräftemangel stetig steigt und Deutschland im Bereich der digitalen Bildung im weltweiten Vergleich hinterherhinkt? Wie kann eine nachhaltige (Schul-) Entwicklung realisiert werden, wenn ständig neue Herausforderungen anstehen? Wie können Schüler:innen individuell gefördert und gestärkt werden? Damit sie eben trotz Begabungen und gymnasialer Empfehlungen nicht doch irgendwann zu Schulabbrechern werden?

Antworten darauf gibt u.a. das Buch „Nachhaltige Bildung. Nachhaltige Schule“


Statistiken, die mehr Fragen aufwerfen, als Antworten liefern …

Die folgenden Eurostat-Statistiken beziehen sich alle auf junge Erwachsene zwischen 18 und 27 Jahren, welche maximal einen Abschluss in Sekundarstufe 1 haben und sich zum Zeitpunkt der Befragung in keiner Berufs- oder Hochschulausbildung (siehe Screenshot, Quelle) befanden.


Die höchsten Quoten (unabhängig von Geschlecht oder ggf. Behinderung) hätten laut RND und allen Medienberichten, die sich auf die RND-Daten beziehen: Rumänien, Spanien, Ungarn und Deutschland mit 12,2 % auf Platz 4.

Doch: Nach den Originaldaten von Eurostat von vorzeitigen „Schul- und Ausbildungsabgänge nach Geschlecht und Behinderung“ hat Island mit 16,5 % die höchste Quote, gefolgt von Rumänien mit 15,6 und Deutschland mit 12,4 % – was Rang drei ist (Stand: 5.2.2024, 23 Uhr). Generell gehören die erhobenen Daten strukturell zum Datenbereich „Übergang vom Bildungssystem zur Arbeitswelt„.

Es gibt aber noch eine Erhebung, die in der Kategorie „Nachhaltige Entwicklung Indikatoren“ > Ziel 4 -hochwertige Bildung“ zu finden ist. Diese zeigt nun wiederum auf, dass Deutschland im Jahr 2022 eine Quote von 9,1 % hatte, und damit auf Platz 10 der Schul- und Ausbildungsabbrecherquote lag.

Ein Blick in eine weitere Eurostat-Kategorie für „Frühzeitige Schul- und Ausbildungsabgänger, Altersgruppe 18-24″ in der Kategorie Sozialpolitik zeigt Deutschland mit 12,2 % auf Platz 6.


Erschreckend für Deutschland wird es bei Analyse der Statistik „Frühzeitige Schul- und Ausbildungsabgänger nach Geschlecht und Geburtsland„. Hier steht Deutschland auf Rang 1 mit 29,8 % in der 1. Jahreshälfte 2023 – das ist nicht gut! Siehe Screenshot.

Nach dieser Statistik sind in Deutschland Geborene die häufigsten Schulabbrecher der EU und damit zerfällt die komplette Migrations-Hintergrund-Geschichte, die politisch behandelt wird.

Zahlen und Fakten? Verwertbare Daten? Was davon jetzt richtig ist? Diese Frage muss wohl der EU gestellt werden. Im Folgenden dreht es sich deshalb um die Menschen, die betroffen sind!

Erläuterung zu den Sekundarstufen und Abschlüssen:

Schüler:innen, welche zum Beispiel in der Sekundarstufe 1 (Sek1), also der „Mittelstufe“, in den Jahrgangsstufen 5 bis 10, die Schule vorzeitig verlassen, haben je nach Schulform nur einen Ersten allgemeinen Abschluss, auch Hauptschulabschluss genannt, oder gar keinen (auf Gymnasien). Damit ist unmöglich, als junger Mensch zu studieren und schwer, einen Ausbildungsplatz zu finden.

Wer dagegen in der Sekundarstufe 2 die Schule abbricht, z.B. an einer Berufs(fach)schule mit Berufsgymnasium, kann einen ESA oder MSA (als ersten oder mittleren Abschluss, Sek. 1) oder die Fachhochschulreife (schon Sek 2) haben. Ohne Folgen bleibt letzteres aber auch nicht. In Deutschland bedeutet dies für Fachhochschul-Absolventen, dass sie 12 Monate lang ein Praktikum oder ein freiwilliges Jahr (FSJ, FÖJ, BFD) machen müssen, um ihre FH-Zugangsberechtigung zu erhalten. In der Zeit arbeiten sie Vollzeit für sehr wenig bis gar kein Geld – dies könnte als ausbeuterisches System betrachtet werden.

Frühe Schulabgänger und Ausbildungsabbrecher sind später häufig von Arbeitslosigkeit, sozialer Ausgrenzung, Armut und Gesundheitsproblemen betroffen, heißt es auf der European Education Area der EU.

Schlechte Bildung führt also zu Armut, möglicherweise auch zu Hunger und oft zu weniger Wohlbefinden. Infolge eventuell auch zu mehr Negativem. All das widerspricht den Nachhaltigkeitszielen der UN, insbesondere diesen vier:


Investitionen in Bildung und funktionierende Qualitätsmanagement-Systeme, durch welche Lehrkräfte und ihre Wirkung auf Schüler:innen im Mittelpunkt stehen, sind also nicht nur eine Frage von Gerechtigkeit, guter Bildung und seelischer Gesundheit, sondern notwendig für unsere Gesellschaft und Wirtschaft (Susanne Braun-Speck, sii-talents e.V., Februar 2024)


Quellen:
Sofern nicht anders angegeben: zuletzt abgerufen am 16.2.24 um 18 Uhr

Foto: KI-generiert mit DALLE